Was ist Taijiquan?
„So what"? In verständlicher Sprache: Was ist Taijiquan denn nun?
Also, Taijiquan kommt aus China. Die Bewegungskunst ist bis ins 17. Jahrhundert hinein zurück verfolgbar durch Namen, Meister und Schulen, davor verliert sich ihre Spur in den Legenden, die aus der Weite der chinesischen Berglandschaften und Steppen überliefert sind.
Eine dieser Geschichten erzählt davon, dass einst der Einsiedler Chang San-feng (er soll in der Sung-Dynastie (960-1279) oder in der Yuan-Dynastie (1279-1368) gelebt haben) eine Schlange mit einem Kranich im Kampf beobachtet hat und hieraus Erkenntnisse für einen neuen Kampfstil zog, der die natürlichen Bewegungsmöglichkeiten des Körpers in Vordergrund rückt. Der große Vogel konnte die Schlange nicht besiegen, die bei jedem Angriff ihren Kopf einzog, sich in weichen, kreisenden Bewegungen zurückzog. Doch auch die Schlange besiegte den Vogel nicht, da der Versuch, ihn zu beißen durch den kreisenden Flügelschlag des Tieres erfolgreich abgewehrt wurde. So entstand eine Patt-Situation, die Chang San-feng über Stunden hinweg beobachten konnte, eben so lange, bis die Kontrahenten den Kampf abbrachen, da sie das Interesse an der Auseinandersetzung verloren hatten. Ob die Geschichte so statt gefunden hat oder nicht, ist vielleicht gar nicht so wichtig, doch sie markiert jedenfalls eine wichtige Grundlage des Taijiquan: es ist die in die Tiefe gehende, feine Naturbeobachtung. Diese feine Beobachtung findet sich etwa in der Art wieder, wie sich Pflanzen im Wind bewegen, oder eben wie sich Tiere auf ganz natürliche Weise kraftvoll und doch ohne unnötigen Energieaufwand fortbewegen. Sie führte Taiji Praktiker immer wieder zu Übertragungen auf die Möglichkeiten des Menschen, damit dieser sich – angepasst an die natürlichen Möglichkeiten seiner Spezies - in ebenso ungesuchter Art zwischen Himmel und Erde bewegt.
Wenn die westliche Welt Naturbeobachtung auflösend in mechanische und physikalische Gesetze überführt und durch diesen spezifischen Ansatz der Forschung immer wieder Zivilisationssprünge (etwa durch Auto, Flugzeug, Atombombe…) auslöst, so ist es die Stärke der chinesischen Naturbeobachtung, dass sie ganzheitlich bleibt. Sezieren, oder Herauslösen von Elementen und Anteilen ist aus ihrer Sicht nicht erstrebenswert, da „Leben" und „Lebendigkeit" nur innerhalb des Ganzen möglich ist. Dies „Ganze" wird für die chinesische Kultur von Laotse (5. oder 3. Jdt. v. Chr., Historizität nicht gesichert) mit dem Begriff „Tao" umschrieben. Das „Tao" lässt sich in der Sprache nicht adäquat ausdrücken, im „Tao Te King" (5. oder 3. Jdt. v. Chr., Laotse zugeschrieben) umschreibt der Autor in poetischer Versform, die auf Beobachtung und Intuition gründet, Annäherungen an das „Tao".
Ein Beispiel für die Beobachtung an Pflanzen: Hu Hsiang-fan nimmt den Gedanken des Laotse auf, dass das Weiche immer das Harte besiegt und schreibt:
„Was ist es, das uns in der Natur der Pflanzenwelt ein so tiefes, gutes Gefühl von Ruhe und Geborgenheit gibt?
Ist es nicht jede einzelne kleine Pflanze, die in der Ganzheit aufgeht, jeder winzige Schössling, der geschmeidig und zielbewusst seinen sicheren Weg findet? Jedes Blatt und jede Blüte, die auf ihrer ständigen Suche nach Licht und Sonne ihre Ziele wissen, und die uns Menschen lehren, den rechten Weg zu gehen?
Es sind die Pflanzen, die uns die großen Wunder zeigen: der kleine, schwache Keim oder der scheinbar so kraftlose Grashalm, der den harten Asphalt zu sprengen vermag; oder das Wasser, das aus hundert kleinen Rinnsalen zusammenfließt zu einem Bach, zu einem Strom und den mächtigen Stein besiegt.
Immer siegt das Weiche über das Harte.
So ist auch der Mensch in seiner Kindheit, solange er noch wächst, elastisch und weich. Erst mit zunehmendem Alter wird er starr und steif.
Darum ist hart Symbol für Krankheit und Tod, und weich Symbol für Werden, für Leben.
Eine solche Naturbeobachtung schließt symbolisierend das menschliche Leben mit ein. Diese Sichtweise auf die Wirklichkeit entsteht in einem Raum der Stille, die ein „Verweilen in der Anschauung" ermöglicht. „Verweilen in der Anschauung" gleicht einem meditativen, künstlerischen Prozess: Naturbeobachtung und Kunstbetrachtung rücken eng aneinander (siehe oben: die 5 klassischen, chinesischen Künste).
„Verweilen in der Anschauung" meint, dass ich das, was ich sehe, höre, rieche, taste, gleichsam absichtslos und ohne das Ziel einer Begriffs- oder gar Urteilsbildung auf mich wirken lasse. Im Alltag ist es meist notwendig, dass ich von dem, was mich affiziert (d.h. von außen, von meiner Umgebung, auf mich zukommt) schnell zu einer Einordnung gelange, zu einem Begriff, zu einem Urteil komme, so dass ich handlungsfähig bin. Die Phase der „Anschauung" ist daher sehr kurz. Sie wird in unserer schnelllebigen, auf Ergebnisse hin orientierten Arbeits- und Alltagswelt auch nicht mehr ausreichend gefördert. Ein Kant-Schüler, Konrad Fiedler, fordert für die Kunstbetrachtung bereits 1876 ein „Verweilen in der Anschauung", und er beklagt, dass die Zeitgenossen an diesem kontemplativen Dasein das Interesse verloren hätten. Die Schnelllebigkeit der Zivilisation wird damals – im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – nicht nur von Fiedler wahrgenommen. Im Zuge der Industrialisierung entsteht die Gartenstadtbewegung, der Jugendstil und weitere Ansätze versuchen, Mensch und Natur/Schöpfung wieder mehr in ein partnerschaftliches Miteinander zu bringen.
Finde die Stille – das ist der Weg der Natur
sagen Taijiquanmeister
oder auch:
Im Taijiquan steht nicht die eigene Kraft und individuelle Interpretation im Vordergrund, vielmehr ist es die Fähigkeit des Taiji-Künstlers, die Struktur, in die er gestellt ist, zu erspüren (den Wellengang zu erspüren) und da hinein ohne Furcht loszulassen – mitzugehen mit den Wellen, statt sich gegen sie stemmen zu wollen. So ist es nicht wie in den Künsten der westlichen Welt seit der Aufklärung der Blick des Individuums auf die Welt, der Wirklichkeit schafft (Fichte, Wissenschaftslehre 1798: Ich bin ich durch Setzung), sondern die Wirklichkeit ist objektiv vorhanden, der Mensch findet sich in ihre Struktur ein.
Der Begriff des >Qi< ist wie jener des >Tao< nicht mit Worten hinreichend übersetzbar. Qi meint einerseits die Energie, die uns nährt: der Atem (frische Luft), die Energie der Nahrung, die Energie, die wir aus Gesundheitsübungen (Qigong, Taiji) beziehen. Qi ist auch das natürliche Medium, in dem sich Leben vollzieht – sowohl das der Pflanze, wie das des Menschen. Das Dasein von Qi in allem Lebendigen ist der Grund für die ganzheitliche Lebensanschauung des Ostens. Die Übungen des Qigong und des Taijiquan versuchen Körperhaltung und Bewegung des Menschen so auszurichten, dass der Qi-Austausch, der zwischen Himmel und Erde ständig in Bewegung ist (wir leben in keinem Vakuum) vom Menschen in bestmöglicher Weise aufgenommen und wieder abgegeben werden kann. Der menschliche Körper wird sozusagen als ein Leiter von Qi verstanden und es ist die Aufgabe der Übungen, den Leiter entsprechend auszurichten, die Leitungen (Meridiane) zu säubern, Blockaden zu beheben und die entsprechende Verwurzelung zur Erde und die Ausrichtung zum Himmel zu gewährleisten.
Der Härte begegnet man im Taijiquan mit aufmerksamer Weichheit. In Einklang mit dem Atem und den natürlichen Bewegungsmöglichkeiten des Körpers führt das regelmäßige Praktizieren der Soloform zu größerer innerer Ruhe, Gelassenheit, Konzentration und Ausdauer.
In den Partnerübungen steht das Spüren, Wahrnehmen oder auch Hören der Bewegungsart des Partners im Vordergrund. Bewegt er sich im Einklang mit dem Wellengang der Qi-Bewegung, die alles, Menschen, Pflanzen und Tiere durchströmt? Wo unterbricht oder blockiert er diese Bewegung durch eigene Härte, „Laschheit", mangelnde Sensibilität, fehlende Beweglichkeit? Wo verlässt mein Gegenüber die ihn tragende Struktur und muss so mit zusätzlicher Muskelkraft dies ausgleichen? Wo also sind Brüche in seinem Bewegungsfluss, wo sind Löcher, wo ist Härte? Es ist, wie wenn zwei mit einer Zugsäge zusammen arbeiten. Im Idealfall wird der Gegner zum Partner, denn nur wenn die beiden aufeinander reagieren und das Maß an Vorrücken und Zurückweichen (ohne Aggressivität, die letztlich auf Angst gründet) verstehen, dann läuft die Säge reibungslos, oder: Es ist dann, wie wenn die Schlange mit dem Vogel kämpft.
Taijiquan als angewandte Kampfkunst erfordert einen ungleich höheren Übungsgrad, wie wenn wir Taijiquan im Sinne von Gesundheitsübungen praktizieren. Eine hohe Beweglichkeit der Gelenke und Glieder wie auch ein vertieftes, leibhaftes Verstehen der Prinzipien von Sinken und Steigen, Öffnen und Schließen ist Voraussetzung. Dies ist nur durch jahrelanges, intensives Training erreichbar, das man am besten schon im Kindesalter beginnt. Taijiquan gehört (neben Pakua Chang und Hsing-yi) zu den inneren Kampfkünsten und wird als der innere Stil des Kungfu bezeichnet. (Übersetzt heißt Kungfu einfach Können oder Fertigkeit).
Der erste Taijiquanstil „Wudang" verdankt seinen Namen der Bergregion, in der dieser Stil entstanden ist. Ursprünglich umfasste die Taijiquanform eine Choreografie von 13 Bewegungen. Im Laufe der Zeit kamen Bewegungen hinzu, die Formen zählen heute bis zu 124 Figuren.
Der mit Namen bekannte Taiji Meister Chen Chang-hsing (1771-1853) ist der Begründer des Chen-Stiles, dem ältesten Familienstil des Taijiquan. „Familienstile" haben sich im Taijiquan insofern entwickelt, da die „letzten" Erkenntnisse um Methode, Wirkungsweise und Effizienz der Bewegungen traditionell nur innerhalb der Familie weiter gegeben werden. Natürlich hat dieses ungeschriebene Gesetz vor allem praktische Gründe. Wie in einer Dynastie von Meisterköchen, das Erfolgsrezept über Generationen hinweg gehütet wird, da es das Auskommen der Familie sichert, so war auch das Taijiquan ursprünglich eine streng gehütete Disziplin der jeweiligen Familie. Allerdings wurde dieses Gesetz durch die Anpassung an das tägliche Leben auch immer wieder durchbrochen. So entstand der Yang-Stil ((Taijiquanstil) der Familie Yang), den ich praktiziere: Ein junger Kampfkünstler schleuste sich als Hausdiener bei der Familie Cheng ein und beobachtete heimlich den Unterricht im engsten Kreise der Familie. Unbemerkt von der Familie übte er die Bewegungen und verstand wohl deren inneren Sinn, denn eines Tages wurde Yang Lu-chan (1799-1872) doch entlarvt und zum Sparring heraus gefordert. Er war so gut, dass der Chen-Clan ihn als „inneren" Schüler aufnahm, ihn also als Teil der Familie akzeptiert hat. Yang Lu-chan entwickelte den Chen-Stil aufgrund seiner eigenen Wahrnehmung, Beobachtungsgabe und Einsicht weiter – ein neuer Stil – der Yang-Stil - war geboren. Von den heute verbreiteten Stilen verkörpert der Chenstil den Kampfsportaspekt noch am stärksten.